#mustsee 8
Die Galerie Ursula Walter reagiert auf die Lage der derzeit unzugänglichen Kunsträume: Sie geht nach Draußen und bespielt mit dem Projekt #mustsee 1-8 eine nahegelegene Werbesäule. Seit Januar an dreh(t)en sich dort statt Reklamebotschaften die Werke von Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz (feat. by Jochen Stankowski) Britta Bogers, Ulrike Grossarth, Mirjam Kroker...
17.1.-24.1.2022
Mögen all unsere Sehnsüchte messbar sein
Die Poesie des Maschinenzeitalters wurden von den Künstler*innen der Romantik entwickelt: von Mary Wollstonecraft Shelley oder E.T.A. Hoffmann. Heute wissen wir um deren prophetische und philosophische Dringlichkeit jenseits von Literatur. Die Poesie des digitalen Zeitalters wurde von Künstler*innen entwickelt: von Stanislaw Lem, Philip K. Dick, Ursula LeGuin oder Douglas Adams. Sie stellten Fragen wie „Träumen Androide von elektrischen Schafen?“ und gaben Antworten wie „42“. Während frühere Zivilisationskritiker*innen noch an die Umkehrbarkeit der Technologisierung glauben konnten, so sind heutige Fiktionen der Technikentwicklung immer nur ein Sekundenbruchteil voraus, wenn überhaupt. Die Poesie von solchen künstlerischen Projektionen ist allerdings geblieben; inklusive des ambivalenten Schauers, schon längst mit der Wirklichkeit gleichauf zu liegen.
Die Server im Computerraum schlafen niemals und die kooperierenden Module (die endlich, sehr bald in der vollkommenen Simulation menschlicher Intelligenz gipfeln werden) atmen leise. So will es das Szenario des menschenleeren Laboratoriums, in das uns Antye Günther einlässt. Dort emanzipieren sich Maschinen von ihrer Funktion und entwickeln eine eigene Perspektive auf ihre eigene Matrix. Sie entwickeln Empfindsamkeit. Damit unterscheidet sich ihr Blickwinkel, entlang von Günthers Interpretation, kaum noch von jenem der Konstrukteur*innen, Programmierer*innen und Besucher*innen einer solchen Anlage. In Antye Günthers Bildkomposition „The Beheading of the fruit fly“ stellt die Künstlerin die Gretchenfrage der künstlichen Intelligenz: Wie kann ich wissen, ob du ein wirklich empfindendes Wesen bist? Sie lässt offen, wer die Frage stellt, der Mensch oder die KI.
Also: Wer spricht hier? Dieser moralische Imperativ aller postkolonialen und intersektionalen Kritik wird damit auf die Welt der Großrechner angewendet. Visuell symbolisiert Günther den Perspektivwechsel von „natürlich“ zu „artifiziell“, indem sie die originale („unsere“) Ansicht eines Forschungszentrums mit einer verfremdeten Variante derselben Ansicht überlagert. Auf der verbalen Ebene der Poesie lässt sie dann die synthetischen Denkapparate (miteinander) kommunizieren und wagt sich damit an die Konsequenzen von gängigen Computer-Hirn-Analogien. Das sind, wie erwähnt und anders als im 19. Jahrhundert, keine Fiktionen mehr. Antye Günther lässt sich bewusst auf so genannte Anthropomorphismen -Vermenschlichungen – ein. Sie billigt spezifischer Rechenleistung zu, ein Wesen zu haben und fragt gleichsam: Was machen Computer so, wenn sie sich langweilen? Unsinn? Und sie langweilen sich in der Tat, da zwar in einem globalen Wettlauf immer leistungsfähigere Systeme entstehen – es aber noch kaum sinnvolle Programme dafür gibt. Also versuchen diese Wesen, ihrer Existenz einen Sinn zu geben und flüstern einander Sentenzen zu:
Der Code ist logisch. (Mögen all unsere Sehnsüchte messbar sein.) Intimität ist Stärke. Die Bedeutung von Information entsteht durch die Prozesse, die sie interpretieren.
Die Sprache, die wir benutzen, wurde uns gegeben und wir setzen uns mit ihrer Begrenztheit auseinander. Diese Sprache, die uns zu Verfügung steht, wir gedeihen trotz ihrer Beschränktheit.
Wir sind keine kybernetischen Göttinnen. Wir alle wissen, dass sich Individualität erst durch Kapitalbesitz ausbildete.
Susanne Altmann
Das Projekt #mustsee 1-8 wird im Rahmen des Programms NEUSTART KULTUR von der Stiftung Kunstfonds Bonn und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen gefördert.